Wir sind die Lebenden : Roman

Gelich, Johannes, 2013
Stadtbücherei Korneuburg
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Medienart Buch
ISBN 978-3-7099-7030-0
Verfasser Gelich, Johannes Wikipedia
Systematik DR - Belletristik
Interessenskreis Roman
Schlagworte Österreichische Literatur, Müßiggang, Eigenverantwortung, Haushälterin
Verlag Haymon
Ort Innsbruck
Jahr 2013
Umfang 239 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Johannes Gelich
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Angela Zemanek-Hackl;
Nepomuk Lakoter ist nach einem Sturz immobil und hat eine Ausrede, um rein gar nichts zu tun und das Leben an sich vorbeigehen zu lassen. (DR)
Nepomuk Lakoter liegt mit seinem Gips auf dem Kanapee. Wie ein Faultier lässt er sich von seiner Perle Amalia bedienen und empfängt wie einst große Herrscher seine Besucher liegend. Das stets unordentlich-chaotische Zimmer dient ihm als perfekte Bühne, um süffisant, sympathisch, manchmal auch zynisch seinen Müßiggang zu zelebrieren. Amalia treibt ihn zeitweise aus dem Zimmer, um Ordnung zu schaffen, doch dieser Vorgang ist meist von kurzer Dauer und wenig zielführend. Als der Druck der Mieter zu groß wird, weil Lakoter das Haus vergammeln lässt, und Lakoters Schwester Judith sich das Mietshaus günstig unter den Nagel reißen möchte, schickt er seinen Freund Simon, die Sanierung des Hauses zu überwachen und sämtliche Behördenwege zu erledigen. Das allerdings ist weder einfach noch schnell getan, es kommt sogar zu einem ernsten Zwischenfall mit einem Mieter, der quasi als Kapo im Haus fungiert. Das illegale Bordell wird wiederum Simon zum Verhängnis. Doch weiterhin bleibt Nepomuk Lakoter in seiner Passivität gefangen. Die junge Vertretung Amalias bringt ihn schließlich aus der Ruhe, weil er sich in die unabhängige, herb-hübsche Frau verliebt.
Als Hauptfigur hat Gelich einen arroganten Raunzer geschaffen, der in seinem Charakter an Bernhard'sche Figuren angelehnt ist. Er schwadroniert, weiß in seinem Nihilismus vieles besser und gibt seiner Menschenscheu und gleichzeitig der Angst vor der Verstrahlung durch den Reaktorunfall in Fukushima nach. Sarkasmus und Humor wechseln einander ab und lassen die Lektüre vergnüglich-kurzweilig werden.

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Helmut Gollner;
Die Schwierigkeiten bei der Lebensverweigerung
Johannes Gelichs Freude machender Roman "Wir sind die Lebenden"
Der Rezensent staunt, wie viele gute Bücher, jedenfalls in der letzten Zeit, unterhalb der Prominentenklasse in Österreich geschrieben werden. Johannes Gelichs Roman Wir sind die Lebenden ist ein Beispiel dafür, ein sehr schönes.
Nepomuk Lakoter, Besitzer eines ererbten Zinshauses, früher Vierziger wie sein Autor, hat sich das Bein gebrochen, liegt mit Gips auf seinem Kanapee, raucht gelegentlich einen Joint, lässt das Zinshaus und sich selbst mit Bedacht verwahrlosen, sich nur widerwillig von Amalia, der rumänischen Heimhilfe, versorgen. Sein Zimmer schützt er polternd vor Ordnung und Sauberkeit, die Fenster müssen geschlossen bleiben, denn draußen lauert Fukushima, im begehbaren Kleiderschrank hat Nepomuk sich einen kleinen Katastrophenbunker gebaut. Das Auftauchen von Welt oder die Notwendigkeit von Entscheidungen oder gar Tätigkeiten empfindet er als Zumutungen. Kanapee, Gips, Cannabis, ein bisschen Buddhismus und eine beträchtliche Erbschaft schützen ihn vor Leben und Realität. Die aufdringlichste Zumutung für Nepomuk ist seine Schwester Judith, welt- und also geschäftstüchtig, mit bohrender Zielstrebigkeit; sie will ihren Bruder retten, vor allem aber sein Zinshaus übernehmen, im Notfall mit Anwalt und Entmündigung.
Nepomuk ist ein träges, unleidliches Kind, das in seiner programmatischen Selbstisolierung und Passivität soziale Verhältnismäßigkeit völlig verlernt hat (eine Jugendfreundin bedrängt er im Damenklo, auch gegen Judith und ihren Anwalt wird er handgreiflich), das in der Begegnung mit anderen bloß sich selbst realisiert, vor allem hemmungslos seine Idiosynkrasien: Hypochondrie, Paranoia, einen schwarzen Pessimismus, der zu bernhardesker Totalverneinung führt. Der Realität und ihren betriebsamen Vertretern tritt er mit einer ausgefeilten Verweigerungsideologie entgegen, die so prinzipiell ansetzt, dass ihre Argumente unschlagbar werden. "Das ist ja das Problem, Judith, ich verfolge keinen Zweck, ich will überhaupt keinen Sinn machen." "Im Grunde geht es heutzutage doch eher darum, Dinge zu unterlassen."
Nepomuks Ansagen sind durchwegs Absagen, an die Welt, die Menschen, die Hoffnung, den Sinn, die Natur, die Kunst: "Wir leben, weil wir Angst vor dem Tod haben, nicht weil wir so glücklich sind." "Ich kann die Natur und die Sonne nicht ausstehen. [] Alles so tyrannisch. [] Was habe ich davon, wenn ich im Park sitze und die Vögel zwitschern höre? Ich bin kein Ornithologe."
Gelich kennt und liebt Gontscharows Oblomow. Nepomuk ist ein Verwandter Oblomows, aber keineswegs sein Abziehbild. Er ist ein Sonderling, der von seinem Autor weder an sein Vorbild noch an den Satiregehalt des ­eigenen Romans verraten wird: Wir amüsieren uns nicht über einen Typ, sondern über ein prall durchgestaltetes Individuum. Nepomuk legt genaue Listen an über die Orte, die er keinesfalls bereisen (natürlich ist Venedig darunter), über Dinge, die er nie wieder tun, und über Waren, die er niemals kaufen würde; er schreibt wütende Beschwerdebriefe um Nichtigkeiten; er glaubt, dass die Reichen sich heimlich Weltraumhotels bauen lassen, für den Atom-Super-GAU
Amalia will Nepomuk mit ihrer Nichte Ana verkuppeln. Das gelingt überraschenderweise. Die Fundgrube für liebenswerte Heimhilfen ist Rumänien, wo Gelich zwei Jahre als Lektor arbeitete. Ana beginnt sich dem sensiblen Rüpel langsam zuzuneigen. Es geht ihr wie dem Leser. Nepomuk, erfreut darüber, dass sein "Apparat" prompt anspringt, kann tatsächlich Zuneigung entwickeln und sogar zeigen, anfangs tolpatschig, dann zunehmend charmant und witzig. Anas halbseitige Gesichtslähmung findet er einfach lässig, er ist verliebt. Das erschwert die Lebensverneinung.
Und dann folgt ein lupenreines Happyend: Nepomuk lässt sich von seinen Freunden zur Revitalisierung ihrer alten Pop-Band zwingen. Auftritt als Vorgruppe in einem Marianne-Faithful-Konzert. Erfolgreiche Performance, Feier, Alkohol, Umarmungen. Auch Amalia taucht auf und materialisiert ihre Begeisterung in feuchten Küssen. Als Ana ihn ins Ohr fragt, ob er mit ihr nach Rumänien fahren würde, stürzt Nepomuk augenblicklich aus dem Fest, wie vom Blitz von dem nie gedachten Gedanken gestreift, dass sein häuslicher Katastrophenbunker für eine zweite Person (Ana) oder gar für dritte und vierte Personen (Kinder) zu klein ist, rennt panisch in die Wohnung - der Gips wurde ihm erst vor Kurzem abgenommen -, holt die Überlebensgeräte aus seinem Bunker, vergisst, die Wohnungstür zu schließen, fährt nach Hütteldorf, rennt in den Lainzer Tiergarten, hebt auf einer Waldlichtung eine 3 x 2 m tiefe Grube aus, deckt sie mit Zweigen und dem mitgebrachten Duschvorhang zu einer Art Iglu - es ist inzwischen der Mittag des nächsten Tags -, kniet erschöpft vor seinem neuen Bunker nieder und beginnt zu weinen.
Lupenreines Happyend: Judith und ihr Anwalt werden nicht mehr erwähnt, Freund Simon hat die Querelen im Zinshaus befriedet, Musik kann Glücksmomente erzeugen, Nepomuk hat sowohl die Liebe als auch seine eigene Liebesfähigkeit und -willigkeit entdeckt, zuletzt sogar die Familienhaltigkeit der Liebe (gerade noch rechtfertigte er seine Philosophie der Lebensverweigerung mit ihrer Unbürgerlichkeit). Der Autor stellt sich ein mit der Beobachtung, dass sich an den Sträuchern die ersten Knospen zeigen; die waren seinem Protagonisten eben noch zuwider ("das Frühlingserwachen [], all dieser grauenhafte Optimismus [] nichts als leere Versprechungen"). Der Sonderling der Lebensverweigerung stürzt ins Leben (mit Tränen) und darf trotzdem Sonderling bleiben (Bunker). Das heißt nicht weniger als: Das Leben ist schön.< 1749 br/>Das Happyend mit seinem Einschlag an Irrealität (Nepomuks Dauerlauf und Bunkerbau) leistet sich eine gewisse Aufhebung/Anhebung/Aushebung der Wirklichkeit bzw. die gut gelaunte Freiheit, Dispositionen nicht immer konsequent zu ihren erwartbaren Folgen zu verurteilen. Die Romanwirklichkeit reproduziert nicht die Unausweichlichkeit der wirklichen Wirklichkeit, und wenn Liebe siegt, muss man nicht unbedingt nach ihrem Ende fragen. Spätestens vom Happyend her wird der Leser gewahr, dass er einen ganz leichten Roman in der Hand gehabt hat, der ihn zugleich davon überzeugt, dass Leichtigkeit eine Tugend sein kann und nichts mit Oberflächlichkeit zu tun haben muss. Man muss die Wirklichkeit nicht verraten, wenn man ihre Möglichkeiten durchspielt.
Gelich kann richtig gut erzählen: Er führt die Feder mit großer Natürlichkeit (Dialoge, Figurengestaltung!); er hat den Kopf voll anschaulichem Weltmaterial, also Konkreta und Details, dem Grundstoff des Erzählers, mit dem man Figuren zum Leben er­wecken und Raum füllen kann.
Nebenher lässt sich der Roman als unaufdringliche und unautoritäre Zeitgeist- bzw. Generationsdiagnose nehmen (tatsächlich häufen sich die Verweigerer in unserer aktuellen Literatur).

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Quelle: Pool Feuilleton;
Manche Lebensformen sind so überzeugend, dass sie in jeder Generation neu erarbeitet und erzählerisch aufgetischt werden müssen. Eine dieser edlen Überlebensphilosophien ist der Oblomowismus, worin der Held mehr oder weniger im Bett liegend das Leben bewerkstelligt und zu Ende bringt.
Johannes Gelich schickt in seinem Roman einen zeitgenössischen Ich-Erzähler aufs Kanapee und in den Rollstuhl. Er ist knapp über vierzig und gehört der Erben-Generation an. Seine Eltern haben ihm und seiner Schwester jeweils eine Hälfte eines Doppelmietshauses vererbt, während die Schwester ihren Teil in Schuss hält, lässt der Erzähler seinen vergammeln, weshalb er anteilsmäßig entmündigt werden soll.
Auch sonst ist der Held Mucki, wie er von Nepomuk abgeleitet in Insider-Kreisen genannt wird, ein ziemlich skurriler Typ. Selbstverständlich wohnt er in einer demütigenden Parterre-Wohnung. Seit er nach dem Atomunfall in Japan Überlebenspakete kaufen wollte, dabei gestürzt ist und sich ein Bein kaputt gemacht hat, verbringt er die Zeit liegend oder im Rollstuhl. Er hat jede Menge Beschwerdebriefe geschrieben, etwa warum es beim Einkaufswagen keine Schlitze für 50-Cent-Münzen gibt oder warum die Post schläft, statt einen zweiten Schalter aufzumachen. Letztlich haben sich auch die Mieter in seinem Haus zusammengerottet und wollen gegen ihn vorgehen.
Der Held freilich lässt sich von einer rumänischen Zugehfrau pflegen, als diese kurz ausfällt, übernimmt die Pflege deren im Gesicht halbseitig gelähmte Nichte, mit der er zwischendurch lethargischen Sex pflegt.
Als er am selben Tag Geburtstag feiern muss und ihm der Gips abgenommen wird, empfindet er beides als sehr erniedrigend, denn er hasst jegliche Form der Mobilität. Liegend nämlich hat Mucki allerhand Diagnosen über die Zeitgenossen erstellt: "Die Leute legen ihr Geld auf den Bahamas an, lesen am Abend Schafkrimis und dann reden sie von Tradition." (34)
In einer Diskussion mit Gleichaltrigen wird resümiert, dass es keine echte Arbeit für die Vierzigjährigen gibt, wer nichts geerbt hat, endet im Prekariat.
"Alle tun so, als gäbe es so klare Regeln wie beim Schach. Wir sind die Lebenden, das ist die Hauptsache." (80) Dem Helden wird zwischendurch ganz übel, wenn er daran denkt, dass er sich noch dreißig Jahre mit dem Geschlechtstrieb herumschlagen muss, dabei hat niemand in seiner Generation die Eier, auch noch Kinder in die Welt zu setzen. (144)
Im Oblomowismus gibt es keine Handlung mit Zug sondern nur Kreisverkehr, und vor allem Entscheidungen sind bei dieser Denkhaltung lebensgefährlich. "Ich möchte abwarten, bis ich mich entschieden habe" lautet daher das einzige Konzept.
Johannes Gelichs Sittenroman ist trotz des scheinbar lethargischen Themas eine aufregende Angelegenheit, fast schon ein Krimi, der als Genre freilich im Roman durchgehend gehasst und verhöhnt wird.
Helmuth Schönauer
Bemerkung Katalogisat importiert von: Rezensionen online open (inkl. Stadtbib. Salzburg)
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Ex.nr. Standort
7104 DR, Gel

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